Tatsiana Khomich im SPIEGEL-Interview über ihre Schwester Maria: »Es ist Folter, anders kann man es nicht nennen«

09.12.2022

Maria Kalesnikava sitzt aufrecht im Bett, sie lächelt ihren Vater an. Der sitzt in Kittel und Maske bei ihr und hält ihre Hand. Es ist das erste Lebenszeichen von der bekannten belarussischen Oppositionellen, nachdem sie notoperiert werden musste. Kalesnikava war vergangene Woche ins Krankenhaus eingeliefert worden – doch was der Grund dafür war, erfuhren Unterstützer und Verwandte lange Zeit nicht.

Die Aufnahme, die in sozialen Medien kursiert, wirkt, als stamme sie von einer Sicherheitskamera. Aufgenommen wurde sie in der Krankenstation der Frauen-Strafkolonie Nr. 4 des Gebiets Gomel, in der Kalesnikava eingesperrt ist. Telegram-Kanäle, die dem belarussischen Regime nahestehen, haben das Bild verbreitet. Kalesnikavas Schwester Tatsiana Chomitsch hat es auf ihrem Facebook-Account geteilt. Lange wusste sie nicht, wie es ihrer Schwester wirklich geht.

Erst war Kalesnikava für mehrere Tage in eine Strafzelle in der Haftkolonie eingesperrt worden, dann plötzlich brachte man sie in ein Krankenhaus nach Gomel. Dort lag sie zunächst auf der Intensivstation. Weder ihr Anwalt noch ihr Vater durften zu ihr. Das belarussische Regime schirmte Kalesnikava ab.

Im SPIEGEL-Interview erzählt Tatsiana Chomitsch von ihrer Ohnmacht, dem ständigen Warten auf Nachrichten ihrer Schwester und der Folter, die politische Gefangene in Belarus erleben. Das Gespräch wurde per Videotelefonat und Messenger geführt.

DER SPIEGEL: Frau Chomitsch, was wissen Sie darüber, wie es Ihrer Schwester geht?

Chomitsch: Mascha (Koseform für Kalesnikavas Vornamen Maria – Anm. d. Red.) ist noch müde, kommt erst langsam zu Kräften. Sie hat abgenommen, isst noch nicht viel, aber sie lächelt bereits. Sie soll mindestens zehn Tage unter ärztlicher Aufsicht auf der Krankenstation bleiben, sagt mein Vater. Ihre Behandlung wird nach einem bestimmten Zeitplan ablaufen, Mascha muss kräftiger werden, langsam dosiert mehr essen.

SPIEGEL: Warum ging es ihr auf einmal so schlecht in Haft?

Chomitsch: Leider haben wir nur sehr wenige Informationen, mussten tagelang warten. Man sagte uns fast nichts. Immerhin hat der Arzt in der Kolonie die Diagnose bestätigt, die wir bereits aus inoffiziellen Quellen, die dem Krankenhaus nahestehen, erfahren hatten: Sie litt unter einem perforierten Magengeschwür, musste deshalb mit dem Krankenwagen in die Klinik eingeliefert und schnell operiert werden. Mascha bat darum, ihren Dank an die Ärzte im Krankenhaus zu übermitteln, die ihr das Leben gerettet haben.

SPIEGEL: Wie lief das Treffen mit Ihrem Vater ab?

Chomitsch: Er durfte Mascha für zehn Minuten sehen, ein Arzt und Mitarbeiter der Strafkolonie waren dabei.

SPIEGEL: Warum wurde Ihre Schwester nach so einer Notoperation bereits in die Kolonie zurückgebracht?

Chomitsch: Die Ärzte sagen, dass sich Maschas Zustand stabilisiert habe. Doch sie war dieses Jahr in der Kolonie ständigem Druck ausgesetzt: Der Briefverkehr mit Familie und Freunden wurde beschränkt, die Treffen mit meinem Vater begrenzt, Anwaltsbesuche verwehrt, ihre persönlichen Sachen täglich von der Strafkolonie-Verwaltung kontrolliert. Dann kam auch noch die Einweisung in eine Strafzelle. Meine Schwester hält sich wirklich tapfer, aber irgendwann wirkt sich all das auf die Gesundheit aus. Mich beunruhigt das, Maria steht ja weiter unter großem Druck, und wir wissen nicht, was nächstes Mal passiert.

»Unser Papa ist ein echter Held. Seit Langem steht er diese Strapazen mit uns durch.«

SPIEGEL: Darf Ihr Vater noch einmal zu Ihrer Schwester während der Zeit auf der Krankenstation?

Chomitsch: Wir wissen es nicht. Es war überhaupt erst das zweite Mal, dass er zu ihr in die Strafkolonie durfte, alle anderen Besuche wurden bisher nicht genehmigt. Unser Papa ist ein echter Held. Seit Langem steht er diese Strapazen mit uns durch. Diese letzten Tage waren unglaublicher Stress für ihn, wie für jeden Vater, der seinem Kind nicht helfen kann. Aber gemeinsam kämpfen wir weiter – das ist das Wichtigste.

Stehen in einem kalten, kleinen Raum

SPIEGEL: Maria wurde zuletzt in einer Strafzelle isoliert eingesperrt, hat das ihren Zustand verschlechtert?

Chomitsch: Auch das wissen wir nicht. Wir müssen weiter warten und hoffen, dass ihr Anwalt Wladimir Pyltschenko sie bald besuchen und sie ihm mehr erzählen kann. Bisher durfte er nicht zu Mascha. Er hat sie das letzte Mal am 17. November gesehen. Damals hatte Mascha ihm gesagt, sie müsse in die Strafzelle, weil sie drei neue angebliche Regelverletzungen begangen haben soll: Einmal soll sie während der Arbeitszeit nicht an ihrem Platz gewesen sein – sie muss als Näherin in der Strafkolonie arbeiten. Zweimal soll sie unhöflich mit jemandem gesprochen haben. Sie bestreitet das. Wir wissen aus einer schriftlichen Erklärung Maschas, dass sie mindestens zehn Tage in der Strafzelle verbringen musste.

Am Mittwoch nach Führen des Interviews veröffentlichte das Team von Babariko eine Erklärung zu den Gründen für Kalesnikavas Krankenhausaufenthalt. Der SPIEGEL dokumentiert sie hier:

»Die Notaufnahme ins Krankenhaus mit einem perforierten Magengeschwür und einer Bauchfellentzündung war das Ergebnis eines unverhältnismäßig grausamen Einsperrens in eine Strafzelle. Ihr Anwalt hatte Maria zuletzt am 17. November in der Strafkolonie gesehen. Später wurde bekannt, dass Maria in eine Strafzelle verlegt wurde. In der Strafzelle war es sehr kalt, Mascha schlief kaum. (…) Schon mehrere Tage vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus war Maria in der Strafzelle in Ohnmacht gefallen, sie litt unter hohem Blutdruck und Übelkeit. In der Dusche verlor sie das Bewusstsein, schürfte sich beim Sturz die Beine auf.

Ein Arzt der Kolonie erklärte, dass jeden Morgen eine Untersuchung in der Strafzelle durchgeführt wird, bei der die Gefangene sagen kann, was sie beunruhigt. Angeblich hatte es von Marias Seite keine Anmerkungen gegeben. Gleichzeitig wurden ihr in der Strafzelle Blutdrucktabletten verabreicht, die sie ohne Beschwerden über ihren Gesundheitszustand nicht bekommen hätte.

Am 28. November erhielt Kalesnikava eine weitere Strafe – sie sollte noch einmal zehn Tage Strafzelle. Ihren Anwalt ließen sie nicht zu ihr. Am Nachmittag dieses 28. November verschlechterte sich ihr Zustand: Zu Blutdruckproblemen, Übelkeit und Ohnmacht kamen unerträgliche Bauchschmerzen, Mascha brach zusammen. Sie wurde auf die Krankenstation gebracht, und am Abend brachte sie dann ein Krankenwagen ins Krankenhaus.«

SPIEGEL: Wie sind die Bedingungen in so einer Strafzelle?

Chomitsch: Ehemalige Gefangene wie Natallia Hersche (eine schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin, die ebenfalls in der Strafkolonie bei Gomel eingesperrt war, bis man sie im Februar freiließ – Anm. d. Redaktion) haben beschrieben, wie es dort ist. Die Gefangenen müssen in einem kleinen Raum, anderthalb Meter mal drei Meter, ausharren. Es gibt eine Toilette, ein Waschbecken. Im Winter ist es sehr kalt, es zieht. Die Gefangenen müssen andere, dünnere Kleidung anziehen. Es gibt keine Bettwäsche, keine Matratze, nur eine Pritsche, die tagsüber an die Wand geschnallt werden muss. Eigentlich kann man fast nur stehen, denn auf dem winzigen Hocker kann man kaum sitzen. Die Gefangenen dürfen nicht raus, arbeiten oder im Hof eine Runde gehen. Natallia hat erzählt, dass man kein Buch, keine persönlichen Sachen mitnehmen durfte, es in jeder der Isolationszellen Videokameras gibt, die Gefangenen ständig beobachtet werden. Es ist Folter, anders kann man es nicht nennen.

Kalesnikava muss Uniformen für Sicherheitsbeamte nähen

SPIEGEL: Maria Kalesnikava wird seit Januar in der Strafkolonie gefangen gehalten. Wie muss man sich ihren Alltag dort vorstellen?

Chomitsch: In der Kolonie sind mehr als tausend Frauen gefangen. Maria war bisher in einem Raum mit 14 anderen Frauen untergebracht, es gab wenig Platz. Die Gefangenen müssen um sechs Uhr morgens aufstehen, dürfen sich etwas waschen und müssen sich dann zum Appell aufstellen. Mascha hat an ihrer Uniform ein gelbes Abzeichen, das Gefangene tragen müssen, die angeblich zum Extremismus neigen. Diese Häftlinge werden tagsüber zusätzlich kontrolliert, Mascha muss sich melden oder ihre persönlichen Sachen bei der Verwaltung der Kolonie vorzeigen. Wir wissen von entlassenen Gefangenen, dass Mascha mit niemandem reden darf, sie aber ihr Lächeln bewahrt hat, auch ihren roten Lippenstift weiterhin trägt.

Sie näht sieben Stunden am Tag Uniformen für Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Sie wird ständig beobachtet, darf nur in Begleitung zur Toilette gehen. In den ersten Monaten machte sie beim Nähen so schnell Fortschritte, dass sie immer neue Aufgaben bekam. In Briefen hat sie ironisch geschrieben, dass sie so rasch lernt, dass sie die Karriereleiter schnell hinaufgestiegen ist. Damit ist seit August aber Schluss, sie bekommt keine neuen Aufgaben mehr. Zuletzt bearbeitete sie Taschen der Uniformen.

Kein Sport, kaum noch Briefe

SPIEGEL: Hat Ihre Schwester Zeit zum Lesen und Briefeschreiben?

Chomitsch: Sehr wenig. Nach dem Nähen sollte sie eigentlich freie Zeit haben, aber auch dann muss sie arbeiten, im Winter Schnee wegräumen oder in der Küche mithelfen beim Kartoffelschälen. Politische Gefangene müssen immer irgendeine Arbeit verrichten, haben kaum Ruhe. Mascha hat vielleicht 15, 30 Minuten Zeit abends für sich. Um zehn Uhr müssen sich alle zum Schlafen hinlegen. Sie hatte zuletzt geschrieben, wie sehr ihr die »Kopfarbeit« fehle, das Auseinandersetzen mit Kunst und Wissenschaft etwa. Sie hat sich Zeitschriften bestellt wie »Wissenschaft und Mensch«, dafür bezahlt sie, aber sie bekommt sie nicht. Sport darf sie keinen treiben, obwohl es in der Strafkolonie sogar einen Sportsaal gibt.

SPIEGEL: Wieso darf sie den nicht nutzen?

Chomitsch: Das hängt mit den ausgedachten Regelverstößen zusammen, mit denen politische Gefangene gegängelt werden. Bei Mascha begann die Gefängnisverwaltung im März damit: Sie hielten immer mehr dieser angeblichen Verstöße fest. So viele, dass ihr auch das Recht genommen wurde, Sport zu treiben, was ihr das Recht auf Gesundheit nimmt. Jeder Mensch muss sich bewegen können. Sie sagte zuletzt, dass sie glaubt, dass ihr auch die Pakete gestrichen werden könnten, mit denen wir ihr zusätzliches Essen, aber zum Beispiel auch warme Schuhe schicken.

SPIEGEL: Erhält Ihre Schwester Briefe?

Chomitsch: Es sind nur noch wenige, die sie von uns bekommt. Schreiben von Freunden, Bekannten und anderen werden ihr seit mehreren Monaten gar nicht mehr übergeben. Auch ihre Briefe erreichen meinen Vater und mich nur noch selten, dabei schreibt Mascha im Monat etwa 120 Briefe.

»Diejenigen von uns, die in Haft sitzen, sollen nicht nur isoliert, sondern psychisch gebrochen und zerstört werden.«

SPIEGEL: Es wurde bekannt, dass der Anwalt ihrer Schwester, seine Lizenz verlieren könnte…

Chomitsch: …Ja, er ist leider nicht der Erste. Mehrere ihrer Juristen dürfen nicht mehr arbeiten. Anwälte sind so wichtig für die Gefangenen, sie sind ihre Verbindung nach draußen zu den Angehörigen. Das Regime unternimmt alles, um Mascha zu isolieren. Ihr ehemaliger Anwalt Maxim Snak, der mit ihr verurteilt wurde, wird jetzt unter verschärften Bedingungen eingesperrt: Er bekommt weniger Essen, das kann Monate so gehen. Das ist noch einmal eine andere Stufe der Folter. Dreimal war er vorher bereits in eine Strafzelle gesperrt worden.

SPIEGEL: Es sind nicht die einzigen düsteren Nachrichten aus den vergangenen Tagen: Wiktor Babariko, der Leiter Ihres Teams und Kandidatenanwärter für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2020, muss nun noch schwerere Arbeit in Haft verrichten, Holzkohle verbrennen. Wenn Sie all dies lesen, sehen Sie einen Zusammenhang?

Chomitsch: Für mich sieht alles nach einem geplanten, koordinierten Vorgehen gegen Mitglieder unseres Teams aus. Diejenigen von uns, die in Haft sitzen, sollen nicht nur isoliert, sondern körperlich wie psychisch gebrochen und zerstört werden. Das Regime will, dass die Welt sie vergisst. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir über ihre Lage sprechen und auf all das aufmerksam machen.

Mit freundlicher Genehmigung von DER SPIEGEL (online)

Quelle: DER SPIEGEL, 07.12.2022. Das Interview führte SPIEGEL-Redakteurin Christina Hebel.

Foto: © Tatsiana Khomich

Beitrag teilen:

Tatsiana Khomich im SPIEGEL-Interview über ihre Schwester Maria: »Es ist Folter, anders kann man es nicht nennen«

09.12.2022

Maria Kalesnikava sitzt aufrecht im Bett, sie lächelt ihren Vater an. Der sitzt in Kittel und Maske bei ihr und hält ihre Hand. Es ist das erste Lebenszeichen von der bekannten belarussischen Oppositionellen, nachdem sie notoperiert werden musste. Kalesnikava war vergangene Woche ins Krankenhaus eingeliefert worden – doch was der Grund dafür war, erfuhren Unterstützer und Verwandte lange Zeit nicht.

Die Aufnahme, die in sozialen Medien kursiert, wirkt, als stamme sie von einer Sicherheitskamera. Aufgenommen wurde sie in der Krankenstation der Frauen-Strafkolonie Nr. 4 des Gebiets Gomel, in der Kalesnikava eingesperrt ist. Telegram-Kanäle, die dem belarussischen Regime nahestehen, haben das Bild verbreitet. Kalesnikavas Schwester Tatsiana Chomitsch hat es auf ihrem Facebook-Account geteilt. Lange wusste sie nicht, wie es ihrer Schwester wirklich geht.

Erst war Kalesnikava für mehrere Tage in eine Strafzelle in der Haftkolonie eingesperrt worden, dann plötzlich brachte man sie in ein Krankenhaus nach Gomel. Dort lag sie zunächst auf der Intensivstation. Weder ihr Anwalt noch ihr Vater durften zu ihr. Das belarussische Regime schirmte Kalesnikava ab.

Im SPIEGEL-Interview erzählt Tatsiana Chomitsch von ihrer Ohnmacht, dem ständigen Warten auf Nachrichten ihrer Schwester und der Folter, die politische Gefangene in Belarus erleben. Das Gespräch wurde per Videotelefonat und Messenger geführt.

DER SPIEGEL: Frau Chomitsch, was wissen Sie darüber, wie es Ihrer Schwester geht?

Chomitsch: Mascha (Koseform für Kalesnikavas Vornamen Maria – Anm. d. Red.) ist noch müde, kommt erst langsam zu Kräften. Sie hat abgenommen, isst noch nicht viel, aber sie lächelt bereits. Sie soll mindestens zehn Tage unter ärztlicher Aufsicht auf der Krankenstation bleiben, sagt mein Vater. Ihre Behandlung wird nach einem bestimmten Zeitplan ablaufen, Mascha muss kräftiger werden, langsam dosiert mehr essen.

SPIEGEL: Warum ging es ihr auf einmal so schlecht in Haft?

Chomitsch: Leider haben wir nur sehr wenige Informationen, mussten tagelang warten. Man sagte uns fast nichts. Immerhin hat der Arzt in der Kolonie die Diagnose bestätigt, die wir bereits aus inoffiziellen Quellen, die dem Krankenhaus nahestehen, erfahren hatten: Sie litt unter einem perforierten Magengeschwür, musste deshalb mit dem Krankenwagen in die Klinik eingeliefert und schnell operiert werden. Mascha bat darum, ihren Dank an die Ärzte im Krankenhaus zu übermitteln, die ihr das Leben gerettet haben.

SPIEGEL: Wie lief das Treffen mit Ihrem Vater ab?

Chomitsch: Er durfte Mascha für zehn Minuten sehen, ein Arzt und Mitarbeiter der Strafkolonie waren dabei.

SPIEGEL: Warum wurde Ihre Schwester nach so einer Notoperation bereits in die Kolonie zurückgebracht?

Chomitsch: Die Ärzte sagen, dass sich Maschas Zustand stabilisiert habe. Doch sie war dieses Jahr in der Kolonie ständigem Druck ausgesetzt: Der Briefverkehr mit Familie und Freunden wurde beschränkt, die Treffen mit meinem Vater begrenzt, Anwaltsbesuche verwehrt, ihre persönlichen Sachen täglich von der Strafkolonie-Verwaltung kontrolliert. Dann kam auch noch die Einweisung in eine Strafzelle. Meine Schwester hält sich wirklich tapfer, aber irgendwann wirkt sich all das auf die Gesundheit aus. Mich beunruhigt das, Maria steht ja weiter unter großem Druck, und wir wissen nicht, was nächstes Mal passiert.

»Unser Papa ist ein echter Held. Seit Langem steht er diese Strapazen mit uns durch.«

SPIEGEL: Darf Ihr Vater noch einmal zu Ihrer Schwester während der Zeit auf der Krankenstation?

Chomitsch: Wir wissen es nicht. Es war überhaupt erst das zweite Mal, dass er zu ihr in die Strafkolonie durfte, alle anderen Besuche wurden bisher nicht genehmigt. Unser Papa ist ein echter Held. Seit Langem steht er diese Strapazen mit uns durch. Diese letzten Tage waren unglaublicher Stress für ihn, wie für jeden Vater, der seinem Kind nicht helfen kann. Aber gemeinsam kämpfen wir weiter – das ist das Wichtigste.

Stehen in einem kalten, kleinen Raum

SPIEGEL: Maria wurde zuletzt in einer Strafzelle isoliert eingesperrt, hat das ihren Zustand verschlechtert?

Chomitsch: Auch das wissen wir nicht. Wir müssen weiter warten und hoffen, dass ihr Anwalt Wladimir Pyltschenko sie bald besuchen und sie ihm mehr erzählen kann. Bisher durfte er nicht zu Mascha. Er hat sie das letzte Mal am 17. November gesehen. Damals hatte Mascha ihm gesagt, sie müsse in die Strafzelle, weil sie drei neue angebliche Regelverletzungen begangen haben soll: Einmal soll sie während der Arbeitszeit nicht an ihrem Platz gewesen sein – sie muss als Näherin in der Strafkolonie arbeiten. Zweimal soll sie unhöflich mit jemandem gesprochen haben. Sie bestreitet das. Wir wissen aus einer schriftlichen Erklärung Maschas, dass sie mindestens zehn Tage in der Strafzelle verbringen musste.

Am Mittwoch nach Führen des Interviews veröffentlichte das Team von Babariko eine Erklärung zu den Gründen für Kalesnikavas Krankenhausaufenthalt. Der SPIEGEL dokumentiert sie hier:

»Die Notaufnahme ins Krankenhaus mit einem perforierten Magengeschwür und einer Bauchfellentzündung war das Ergebnis eines unverhältnismäßig grausamen Einsperrens in eine Strafzelle. Ihr Anwalt hatte Maria zuletzt am 17. November in der Strafkolonie gesehen. Später wurde bekannt, dass Maria in eine Strafzelle verlegt wurde. In der Strafzelle war es sehr kalt, Mascha schlief kaum. (…) Schon mehrere Tage vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus war Maria in der Strafzelle in Ohnmacht gefallen, sie litt unter hohem Blutdruck und Übelkeit. In der Dusche verlor sie das Bewusstsein, schürfte sich beim Sturz die Beine auf.

Ein Arzt der Kolonie erklärte, dass jeden Morgen eine Untersuchung in der Strafzelle durchgeführt wird, bei der die Gefangene sagen kann, was sie beunruhigt. Angeblich hatte es von Marias Seite keine Anmerkungen gegeben. Gleichzeitig wurden ihr in der Strafzelle Blutdrucktabletten verabreicht, die sie ohne Beschwerden über ihren Gesundheitszustand nicht bekommen hätte.

Am 28. November erhielt Kalesnikava eine weitere Strafe – sie sollte noch einmal zehn Tage Strafzelle. Ihren Anwalt ließen sie nicht zu ihr. Am Nachmittag dieses 28. November verschlechterte sich ihr Zustand: Zu Blutdruckproblemen, Übelkeit und Ohnmacht kamen unerträgliche Bauchschmerzen, Mascha brach zusammen. Sie wurde auf die Krankenstation gebracht, und am Abend brachte sie dann ein Krankenwagen ins Krankenhaus.«

SPIEGEL: Wie sind die Bedingungen in so einer Strafzelle?

Chomitsch: Ehemalige Gefangene wie Natallia Hersche (eine schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin, die ebenfalls in der Strafkolonie bei Gomel eingesperrt war, bis man sie im Februar freiließ – Anm. d. Redaktion) haben beschrieben, wie es dort ist. Die Gefangenen müssen in einem kleinen Raum, anderthalb Meter mal drei Meter, ausharren. Es gibt eine Toilette, ein Waschbecken. Im Winter ist es sehr kalt, es zieht. Die Gefangenen müssen andere, dünnere Kleidung anziehen. Es gibt keine Bettwäsche, keine Matratze, nur eine Pritsche, die tagsüber an die Wand geschnallt werden muss. Eigentlich kann man fast nur stehen, denn auf dem winzigen Hocker kann man kaum sitzen. Die Gefangenen dürfen nicht raus, arbeiten oder im Hof eine Runde gehen. Natallia hat erzählt, dass man kein Buch, keine persönlichen Sachen mitnehmen durfte, es in jeder der Isolationszellen Videokameras gibt, die Gefangenen ständig beobachtet werden. Es ist Folter, anders kann man es nicht nennen.

Kalesnikava muss Uniformen für Sicherheitsbeamte nähen

SPIEGEL: Maria Kalesnikava wird seit Januar in der Strafkolonie gefangen gehalten. Wie muss man sich ihren Alltag dort vorstellen?

Chomitsch: In der Kolonie sind mehr als tausend Frauen gefangen. Maria war bisher in einem Raum mit 14 anderen Frauen untergebracht, es gab wenig Platz. Die Gefangenen müssen um sechs Uhr morgens aufstehen, dürfen sich etwas waschen und müssen sich dann zum Appell aufstellen. Mascha hat an ihrer Uniform ein gelbes Abzeichen, das Gefangene tragen müssen, die angeblich zum Extremismus neigen. Diese Häftlinge werden tagsüber zusätzlich kontrolliert, Mascha muss sich melden oder ihre persönlichen Sachen bei der Verwaltung der Kolonie vorzeigen. Wir wissen von entlassenen Gefangenen, dass Mascha mit niemandem reden darf, sie aber ihr Lächeln bewahrt hat, auch ihren roten Lippenstift weiterhin trägt.

Sie näht sieben Stunden am Tag Uniformen für Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Sie wird ständig beobachtet, darf nur in Begleitung zur Toilette gehen. In den ersten Monaten machte sie beim Nähen so schnell Fortschritte, dass sie immer neue Aufgaben bekam. In Briefen hat sie ironisch geschrieben, dass sie so rasch lernt, dass sie die Karriereleiter schnell hinaufgestiegen ist. Damit ist seit August aber Schluss, sie bekommt keine neuen Aufgaben mehr. Zuletzt bearbeitete sie Taschen der Uniformen.

Kein Sport, kaum noch Briefe

SPIEGEL: Hat Ihre Schwester Zeit zum Lesen und Briefeschreiben?

Chomitsch: Sehr wenig. Nach dem Nähen sollte sie eigentlich freie Zeit haben, aber auch dann muss sie arbeiten, im Winter Schnee wegräumen oder in der Küche mithelfen beim Kartoffelschälen. Politische Gefangene müssen immer irgendeine Arbeit verrichten, haben kaum Ruhe. Mascha hat vielleicht 15, 30 Minuten Zeit abends für sich. Um zehn Uhr müssen sich alle zum Schlafen hinlegen. Sie hatte zuletzt geschrieben, wie sehr ihr die »Kopfarbeit« fehle, das Auseinandersetzen mit Kunst und Wissenschaft etwa. Sie hat sich Zeitschriften bestellt wie »Wissenschaft und Mensch«, dafür bezahlt sie, aber sie bekommt sie nicht. Sport darf sie keinen treiben, obwohl es in der Strafkolonie sogar einen Sportsaal gibt.

SPIEGEL: Wieso darf sie den nicht nutzen?

Chomitsch: Das hängt mit den ausgedachten Regelverstößen zusammen, mit denen politische Gefangene gegängelt werden. Bei Mascha begann die Gefängnisverwaltung im März damit: Sie hielten immer mehr dieser angeblichen Verstöße fest. So viele, dass ihr auch das Recht genommen wurde, Sport zu treiben, was ihr das Recht auf Gesundheit nimmt. Jeder Mensch muss sich bewegen können. Sie sagte zuletzt, dass sie glaubt, dass ihr auch die Pakete gestrichen werden könnten, mit denen wir ihr zusätzliches Essen, aber zum Beispiel auch warme Schuhe schicken.

SPIEGEL: Erhält Ihre Schwester Briefe?

Chomitsch: Es sind nur noch wenige, die sie von uns bekommt. Schreiben von Freunden, Bekannten und anderen werden ihr seit mehreren Monaten gar nicht mehr übergeben. Auch ihre Briefe erreichen meinen Vater und mich nur noch selten, dabei schreibt Mascha im Monat etwa 120 Briefe.

»Diejenigen von uns, die in Haft sitzen, sollen nicht nur isoliert, sondern psychisch gebrochen und zerstört werden.«

SPIEGEL: Es wurde bekannt, dass der Anwalt ihrer Schwester, seine Lizenz verlieren könnte…

Chomitsch: …Ja, er ist leider nicht der Erste. Mehrere ihrer Juristen dürfen nicht mehr arbeiten. Anwälte sind so wichtig für die Gefangenen, sie sind ihre Verbindung nach draußen zu den Angehörigen. Das Regime unternimmt alles, um Mascha zu isolieren. Ihr ehemaliger Anwalt Maxim Snak, der mit ihr verurteilt wurde, wird jetzt unter verschärften Bedingungen eingesperrt: Er bekommt weniger Essen, das kann Monate so gehen. Das ist noch einmal eine andere Stufe der Folter. Dreimal war er vorher bereits in eine Strafzelle gesperrt worden.

SPIEGEL: Es sind nicht die einzigen düsteren Nachrichten aus den vergangenen Tagen: Wiktor Babariko, der Leiter Ihres Teams und Kandidatenanwärter für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2020, muss nun noch schwerere Arbeit in Haft verrichten, Holzkohle verbrennen. Wenn Sie all dies lesen, sehen Sie einen Zusammenhang?

Chomitsch: Für mich sieht alles nach einem geplanten, koordinierten Vorgehen gegen Mitglieder unseres Teams aus. Diejenigen von uns, die in Haft sitzen, sollen nicht nur isoliert, sondern körperlich wie psychisch gebrochen und zerstört werden. Das Regime will, dass die Welt sie vergisst. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir über ihre Lage sprechen und auf all das aufmerksam machen.

Mit freundlicher Genehmigung von DER SPIEGEL (online)

Quelle: DER SPIEGEL, 07.12.2022. Das Interview führte SPIEGEL-Redakteurin Christina Hebel.

Foto: © Tatsiana Khomich

Beitrag teilen: